Leseprobe

 

 

Ulla beobachtete, dass sich die angespannte Miene des Mannes lockerte. Ein winziges, kauziges Lächeln erschien um seinen Mund mit dem Dreitagebart.

 

Ulla wurde erst jetzt bewusst, dass sie dicht beieinanderstanden. Sie nahm seinen Geruch wahr und tippte auf Nivea Creme oder Babyseife. Mit einem Hauch Marzipan? Im nächsten Moment spürte Ulla seine Lippen auf den ihren. Ihre Hände versuchten, den Oberkörper des Mannes beiseitezuschieben. Keine Chance. Sie presste ihre Lippen zusammen. Sollte er doch ihren Lippenstift schmecken. Auch der zu schade für ihn!

 

Ehe sie reagieren konnte, stieß der Mann sie von sich. Sie prallte gegen das Regal und strauchelte. Als sie sich aufrappelte, war der Mann verschwunden. Sie stand allein unter dem Funzel-Licht des Abstellraums inmitten zahlreicher Flaschen mit Flüssigseifen und Unmengen heruntergefallener Toilettenrollen. Die Sirenen schickten ihren lang gezogenen Heulton erneut durch die Flughafen-Gänge. Der Ton durchdrang mühelos die dünne Wand und kroch jetzt einem Ungeheuer gleich, in Ullas Eingeweide. Vergeblich suchte sie nach einem Tür-Knauf und begriff, dass der Typ sie eingesperrt hatte.

 

«Mist«, fluchte sie und: «Das kann nur mir passieren, Blond halt.« Der spontane Ausruf rang ihr trotz der unerfreulichen Situation ein Lächeln ab, weil er sie an ihren Sohn Dennis erinnerte.

 

Sie inspizierte das Schloss und fluchte erneut. Ohne einen Vierkantschlüssel war ein Öffnen aussichtslos. Sie beugte sich zum Schlüsselloch. Deprimiert schaute sie hinaus und geradewegs auf ihren Koffer. Er behauptete sich ein Stück entfernt, gleich neben der Abgrenzung zum Transportband im leer gähnenden Gang. Die Sirenen schwiegen. Ulla fühlte sich, als wäre sie eine der letzten Überlebenden nach einem Super-GAU. Sie bummerte sinnlos mit den Fäusten gegen die schwere Tür, bis die Handballen ihr wehtaten und wiederholte das Ganze mit den Füßen, bis sie vor Schmerz das Gesicht verzog. Erschöpft hockte sie sich auf den Boden, holte Luft. Bevor Selbstmitleid sie zu übermannen drohte, bezog sie erneut ihren Beobachtungsposten am Schlüsselloch. Sie starrte den Koffer an, der Koffer starrte sie an. Der Boden glänzte nach wie vor. Nicht mal eine Maus wagt sich heraus, fluchte sie, und sehnte sich den Sirenenton regelrecht herbei. Aber es blieb still.

 

Um Ort, Zeit und ihre Angst zu verdrängen, begann sie zu singen. Ihre Stimme klang seltsam blechern und piepsig. Sie lachte, als ihr der Vater, mit seinem von der klassischen Musik geprägten Geschmack in den Sinn kam. Er war überzeugt, seine Tochter sei unmusikalisch. Er hielt Schlager für unterstes Niveau. Und ihr fiel nichts anderes ein als der Anton von Tirol.

 

Als ihr Rücken vom Bücken schmerzte, streckte sie sich einen Moment. Im Nächsten presste sie die Augen wieder vor das Loch.

 

Als sie schwere Schritte hörte, machte ihr Herz einen Sprung. Die Hand fast am Holz der Tür, um dagegen zu hämmern, gehorchte ihr nicht. Ein Rücken, breit, schwarz, dann ein Maschinengewehr. Aus der niedrigen Perspektive wuchs die Gestalt in die Höhe wie ein Schreckgespenst. Gebannt verfolgte sie, das in ihren Augen unnatürliche, ruckartige Vorwärtsbewegen. Erneut schob sich der Lauf eines Gewehrs ins Sichtfeld. Ulla hielt den Atem an. Ihre Gedanken überschlugen sich. Würden die Männer auf die Tür feuern, wenn sie sich bemerkbar machte? Sämtliche Szenen aus den Krimis der letzten Monate flimmerten über ihre Gedankenleinwand. Sie zwang sich zur Ruhe. Männer einer Spezialeinheit oder Terroristen? Wenn sie miteinander sprechen würden!

 

Aber alles ging lautlos vor sich, die beiden Männer verständigten sich mit Handzeichen. Schwarzer Stoff, ganz nah. Jetzt wieder Sicht. Ein weiterer Mann, ein Gerät in den Händen, näherte er sich dem Koffer. Die anderen entzogen sich ihrem Blickfeld.

 

Die Männer suchten nach einer Bombe! Die Sirenen - keine Übung. Realität. In ihrem Koffer? Eine Bombe?

 

Einen Moment war ihre Aufmerksamkeit abgeschweift. Schon glänzte der Flur leer. Der Koffer war verschwunden. Ullas Gedanken überschlugen sich. Sie verharrte wie paralysiert.

 

Die Tür splitterte, Holz flog durch die Luft. Ulla schützte mit dem Handrücken die Augen. Ehe sie etwas sagen konnte, überwältigte man sie, drückte man ihr Gesicht zu Boden und riss man ihre Arme brutal nach hinten. Sie spürte das kühle Metall von Handschellen an den Gelenken und hörte das Geräusch des Zuschnappens. Gefesselt wurde sie hochgezerrt und auf die Beine gestellt. Eine rohe Hand schupste sie hinaus in den Gang. Die Männer verfrachteten sie auf ein Flughafenfahrzeug, als wäre sie ein Gegenstand. Das Elektromobil fuhr umgehend los. Sie schmeckte Staub im Mund. Ein Hohn. Und sie hatte geglaubt, nach der Landung könne ihr nichts mehr passieren.


 

 

 


Weitere Bücher:

Tatort Kalabrien - Ein mörderischer Urlaub

Tatort Mallorca - Die Tote in der Mönchsbucht

Tatort Oktoberfest - Mörderisches Spiel

 

und

für Venedig: Die Trilogie über die dichtende Kurtisane Veronica Franco

eine Romanbiografie, die den Leser in die Zeit der Renaissance entführt.

Zum Weinen ist die Zeit zu schade (autobiografisch)

 

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